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Genderfaire Sprache und Sprachtechnologie (GenderFairMT)

Unterschiede in Medienberichterstattungen über nicht-binäre Personen, wie kürzlich anlässlich des Coming-outs von Demi Lovato als nicht-binär, zeigen noch große Unsicherheiten im deutschen Sprachraum zum Thema der geschlechterinklusiven und/oder geschlechterneutralen Sprache. Ebenso bestehen Zweifel im Bereich der Sprachdienstleistung, welche genderfaire Sprachstrategie gewählt werden soll, z. B. in der Übersetzung und Dolmetschung ins Deutsche und aus dem Deutschen. In der Forschung und Praxis der Sprachtechnologien wird das Thema der Diskriminierung zwar thematisiert, aber meist auf ein binäres Geschlechterverständnis (männlich/weiblich) beschränkt. Aber welche Strategie wählen für eine genderfaire Sprache? „Leser:innen“, „Leser*innen“, „Leser_innen“, „Leser’innen“, „Lesxs“, „Les**“, „Lesens“ oder eine ganz andere Strategie?

Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, haben Forscher*innen der Universität Wien, TU Wien, FH Campus Wien und FH St. Pölten, unterstützt durch das Center for Technology and Society (CTS), einen dreitägigen partizipativen Workshop mit einer abschließenden Podiumsdiskussion organisiert. Gemeinsam mit Expert:innen aus der nicht-binären und queeren Community, aus Übersetzung und aus der Sprachtechnologie haben wir das Thema der genderfairen Sprache und genderfairen Sprachtechnologie erörtert, mit besonderem Fokus auf der maschinellen Übersetzung (MT).

Von der Identifikation der Probleme und einer möglichen besseren Welt haben wir uns gemeinsam über drei Tage hinweg in Richtung Strategienfindung und Vorschläge für Öffentlichkeitsarbeit bewegt. In Hinblick auf bestehende Probleme wurden sehr pragmatische Themen, von häufiger Unterwellung von genderfairer Sprache durch Rechtschreibprüfungen bis hin zu Zweifeln an der Lesbarkeit und Verständlichkeit einiger Strategien, insbesondere für Sprachlernende oder Menschen mit Lesebeeinträchtigungen, besprochen. Zusätzlich kann die Wahl der genderfairen Sprachtechnologie auch von technischen Einschränkungen beeinflusst werden, z. B. hat das Gendersternchen eine Funktion in der Markdown-Syntax (nämlich Text zu kursivieren). Aus der technischen Perspektive der Entwicklung maschineller Übersetzung wurde der Mangel an genderfairen Textbeispielen und großen Textkorpora genderfairer Sprache für das Training von neuronalen Systemen thematisiert. Über eine zentrale Grundproblematik herrschte jedenfalls Einigkeit, und zwar, dass Sprache alleine keine Inklusivität schafft, wenn diese nur zur kosmetischen Oberflächenbehandlung von Kommunikation verwendet wird, die Inhalte aber dennoch stereotype Geschlechterbilder oder andere reaktionäre Denkweisen enthalten.

Innerhalb der Beteiligtenkreise wurden geteilte Utopien zum Thema greifbar in Form einiger Flipcharts (nicht-binärer und queerer Personenkreis), des Lego-Einhorns Leonda, the Gender Avenger (MT-Expert*innen) sowie des eierlegenden Wollmilch-Ich-bin-Ichs mit nims Stufenprozess (professionelle Übersetzer*innen) dargestellt[1]. Die letzten beiden Personenkreise haben besonders die Notwendigkeit einer Standardisierung mit gewisser Flexibilität und einer möglichen offiziellen Anlaufstelle für Fragen zur genderfairen Sprache hervorgehoben, z. B. eine Art „Helpline“. Dahingegen reflektiert die Utopie der nicht-binären und queeren Teilnehmx eine harsche Gegenwart: Gewünscht werden die Möglichkeit für Veränderung und Dynamik, mehr Respekt und Sensibilität und „einfach nur sein können!“.

Bei der Auffindung von konkreten Strategien zur genderfairen Sprache hat sich eine deutliche Präferenz für ein stufenweises Modell abgezeichnet, das eine schrittweise Einführung neuer sprachlicher Strategien ermöglicht. Generell konnte die Verwendung von Sonderzeichen, wobei sich einige Teilnehmys für das Gendersternchen ausgesprochen haben, andere wiederum keine starke Präferenz für die Art des Sonderzeichens haben, als erste und unterste Stufe der genderfairen Sprache identifiziert werden. In Hinblick auf die oberste Stufe oder das zu erreichende Ziel gab es verschiedene Ideen, von geschlechtsneutralen Neo-Pronomen und der „-ens“-Strategie (z. B. „Lesens“) bis hin zu geschlechtsinklusiven Strategien, wie etwa die Einführung der Sylvain-Konvention. In diesem System wird ein neues Geschlecht, und zwar das Indefinitivum (auch „liminales Geschlecht“ genannt), in die Sprache eingeführt (z. B. wird neben „der Mann“ und „die Frau“ zusätzlich „din Lim“ eingeführt).

Als Hauptkriterien für die Wahl der Strategie wurden Niederschwelligkeit, Praktikabilität und Universalität gesehen. Eines der wichtigsten Kriterien ist die Möglichkeit, über und mit Personen sprechen zu können, ohne deren Geschlechtsidentität preisgeben zu müssen, also eine Strategie des „Nicht-Outings“. Weiters sollte die gewählte Strategie eine hohe Lesbarkeit, Verständlichkeit und Erlernbarkeit für Sprachlernende bieten. Außerdem ist es essentiell, dass die Strategie niederschwellig in Hinblick auf die Aussprache ist. Für eine geschlechtsneutrale Strategie, wie etwa „-ens“, spricht, dass sie pragmatisch ist, auch technisch gut umsetzbar ist, und ein gewohntes Klangbild erzeugt. Dagegen spricht, dass geschlechtsspezifische Information verloren geht und es eine Strategie des Ersetzens von Geschlecht und nicht der Inklusion ist. Das bekannte Klangbild kann auch problematisch sein, da beispielsweise „-ens“ deshalb gewohnt erscheint, weil diese Form bereits als Genitiv der deutschen Sprache vorkommt und somit auch Verwechslungsgefahr besteht.

Hauptkriterium aus technischer Sicht ist, dass die konkreten Einschränkungen der Umsetzbarkeit berücksichtigt werden sollten, z. B. limitierte Zeichenlänge in bestimmten Kontexten wie Benutzer:innenoberflächen, bereits existierende Belegung von bestimmten Zeichen mit konkreten Funktionen, besonders beim Gendersternchen, und explizite Klarheit über die zu verwendende Sprache in allen Kontexten. Für die maschinelle Übersetzung stellt der Mangel an verfügbaren Textbeispielen und Textkorpora ein zentrales Problem dar, das aus technischer Sicht gelöst werden muss, indem eine flexible, personalisierbare Methode erarbeitet wird oder auf Basis hybrider Methoden einschließlich regelbasierter Verfahren Textbeispiele generiert werden. Hier wurde als Alternativlösung eine intralinguale Übersetzung aus dem Deutschen ins genderfaire Deutsch vorgeschlagen.

Aus Sicht der Übersetzung ist eine eindeutige Zuweisung von Entsprechungen aus anderen Sprachen essentiell, unabhängig von der konkreten Strategie. Informationen des Ausgangstextes sollten im Zieltext nicht verloren gehen, was in gewisser Weise gegen eine geschlechtsneutrale Strategie spricht, und die Formen müssen eine kontextgetreue Formulierung ermöglichen. Hierbei gilt es vorrangig, die verschiedenen Strategien konkret über verschiedene Sprachtypen und Sprachpaare hinweg auf Übersetzbarkeit zu testen. In jedem Fall ist für die Sprachindustrie ein Standard bzw. sogar ein genderfaires Gütesiegel von Vorteil, da hierdurch Akzeptanz und Einhaltung neuer Sprachnormen erreicht werden kann. Das Gütesiegel könnte die vorgeschlagenen Stufen für genderfaire Sprache reflektieren. Als Mindestanforderung sollte es eine klare Aufstellung zur Verwendung genderfairer Sprache geben, sozusagen ein „Cheat Sheet“, welches im Übersetzungsprozess konsultiert werden kann.

Seitens der nicht-binären und queeren Community steht der Wunsch nach flexiblem Zugang zu Identitätsbeschreibungen, die sich für Individuen aber auch im gesamtgesellschaftlichen Verständnis konstant weiterentwickeln können, dem Wunsch nach Standardisierung gegenüber. Vor allen Dingen gab es seitens der Community auch den expliziten Wunsch, dass sich Übersetzer*innen und Machine Translation Expertys auch positiv als Allys positionieren. Insbesondere ÜbersetzerNinnen wurden als mögliche Brückenbauere zwischen der Mehrheitsgesellschaft und nicht-binären bzw. queeren Minderheiten gesehen. Konkret zählt der Grundgedanke, nämlich: „Es geht hier um die Bedürfnisse von Menschen, nicht nur darum, die geilste Lösung zu implementieren.“

Aufgrund einer Zweiteilung der Teilnehmys zwischen Präferenzen für geschlechtsneutral und geschlechtsinklusiv wurde eine hybride Strategie vorgeschlagen, welche eine Ausdrucksmöglichkeit für alle Personen bietet, ohne die Notwendigkeit, einzelne Personen explizit zu outen. Es ist sinnvoll, verschiedene Strategien gemeinsam über Personenkreise hinweg zu besprechen, jedoch erfordert die Verwendung von bestimmten Strategien oder Kombinationen daraus noch konkrete Untersuchungen hinsichtlich der Lesbarkeit, Verständlichkeit und breiten Akzeptabilität. Beispielsweise sollte hier getestet werden, ob verschiedene Personenkreise die Inhalte erfassen können, wenn in einer bestimmten genderfairen Strategie vorgetragen wird und welche Bilder in den Köpfen dens Zuhörens durch einzelne Strategien erzeugt werden.

Insgesamt bestand ein Spannungsfeld zwischen Standardisierung und Personalisierung. Ein Standard kann Sicherheit der grammatikalischen Korrektheit vermitteln und sollte einfache und einheitlich auszusprechende Lösungen bieten, die sich auch für Screenreader technisch eignen. Weiters erleichtert ein Standard die technische Umsetzung der maschinellen Übersetzung und auch die Einführung genderfairer Sprache in der Übersetzung. Zur Implementierung und Förderung dieses Unterfangens ist die Unterstützung durch Institutionen, wie etwa den Duden und andere Wörterbücher, Behörden, Medien, Berufsverbände essentiell, und auch die Idee eines transdisziplinären „Instituts für diskriminierungskritische Sprachverwendung“ kam auf. Zumindest für die Ansprache von und Referenzierung auf unbekannte Personen würde ein derartiger Standard vieles erleichtern, was allerdings den Praktiken der sich noch in der Entwicklung befindenden Sprachnormen selbst innerhalb der queeren und nicht-binären Communitys diametral gegenübersteht. Hier würden sich flexible Leitfäden als Ansatz anbieten, der Zugänge zu Standardisierung mit offenen Personalisierungsmöglichkeiten verbindet. Hierzu müssten unterschiedliche Bevölkerungsgruppen und deren Bedürfnisse konstruktiv mitgedacht werden.

Der Reichtum an Ideen für weiterführende Aktivitäten und Öffentlichkeitsarbeiten wird hier nur kurz angezeigt: (1) ein öffentlich verfügbares Tool, dass die Konvertierung von längeren Textbeispielen mit allen Facetten der deutschen Sprache von einer Strategie in die andere ermöglicht, (2) ein Browser-Plugin oder anderes Tool mit genderfairer Rechtschreibprüfung, welche genderfaire Formulierungen vorschlägt, (3) ein Kinderbuch mit Bastelanleitungen für das eierlegende Wollmilch-Ich-bin-Ich und das Lego-Einhorn Leonda, the Gender Avenger, (4) weiterführende Forschungsaktivitäten für die Überprüfung der Lesbarkeit, Verständlichkeit, Akzeptanz, und Niederschwelligkeit konkreter Strategien mit verschiedenen Personenkreisen, (5) weiterführende Aktivitäten für die Überprüfung der Übersetzbarkeit einzelner Strategien, (6) Erarbeitung einer technischen Lösung für ein personalisierbares maschinelles Übersetzungssystem, (7) die Einrichtung konkreter Plattformen[2] für den weiteren Austausch innerhalb der drei Personengruppen des Workshops, aber auch mit interessierten anderen Personen, (8) die Organisation eines transnationalen Netzwerks im deutschen Sprachraum. Abschließend geht als Ergebnis des Workshops deutlich hervor, dass diese Initiative als inter- und transdisziplinäre multiprofessionelle Teamarbeit fortgeführt werden soll und wird.

[1] Fotos verfügbar auf: https://twitter.com/GenderFairMT/status/1438468629264224258

[2]Anmeldung zur Mailingliste mit E-Mail ohne Betreff und Inhalt an: netzwerk-subscribe@lists.genderfairmt.eu

 

Organisationsteam:

  • Dagmar Gromann, Zentrum für Translationswissenschaft, Universität Wien
  • Manuel Lardelli, Zentrum für Translationswissenschaft, Universität Wien & Institut für Theoretische und Angewandte Translationswissenschaft, Universität Graz
  • Katta Spiel, Forschungsbereich Human Computer Interaction, Institut für Visual Computing and Human-Centered Technology, TU Wien
  • Sabrina Burtscher, Forschungsbereich Human Computer Interaction, Institut für Visual Computing and Human-Centered Technology, TU Wien
  • Arthur Mettinger, FH Campus Wien
  • Igor Miladinovic, FH Campus Wien
  • Daniela Duh, FH Campus Wien
  • Katharina Bühn, FH Campus Wien
  • Lukas Daniel Klausner, Institut für IT-Sicherheitsforschung, FH St. Pölten

 

Weitere Informationen und Kontakt:

Dagmar Gromann

E-Mail: dagmar.gromann@univie.ac.at

Telefon: +43-1-4277-58013

 

Projektwebseite: https://genderfair.univie.ac.at/index.html

Video der Podiumsdiskussion: https://www.youtube.com/watch?v=RvCG5cL5ZSI

Veranstaltungsfotos (auf Anfrage): dagmar.gromann@univie.ac.at

 

ELRC in den sozialen Medien:

Twitter: @GenderFairMT

Instagram: @genderfairmt

 

von Bettina Schreibmaier-Clasen

Wien, November 2021

Kommentare

  • Danke für diesen informativen Artikel über diesen spannenden Workshop!
    Mich interessiert, warum das Gerund nicht unter den genannten Strategien ist, also etwa "die Lesenden" (Verwendung im Plural).

    Kommentar von Martina am 30. November 2021 um 21:54