Mediendolmetschen: „Ein Drahtseilakt ohne Netz“ – Interview mit Ingrid Kurz
Vor über 50 Jahren betrat erstmals ein Mensch den Mond – hautnah erlebt hat dies die Dolmetscherin Ingrid Kurz, die zusammen mit einem Kollegen die damaligen Ereignisse für das österreichische Fernsehpublikum ins Deutsche gedolmetscht hat. Aus Anlass des Artemis-Programms, in dessen Zuge die Menschheit die Rückkehr zum Mond plant, gab uns Ingrid Kurz einen Einblick hinter die Kulissen der Dolmetschtätigkeit beim Fernsehen und wir sprachen darüber, was diese Einsätze besonders spannend und stressig macht.
Ingrid Kurz, welche Aufgaben kommen auf Dolmetscher:innen beim Fernsehen zu und mit wem arbeitet man zusammen?
Die Antwort ist ganz einfach: Den Inhalt eines fremdsprachigen Beitrages für die Fernsehteilnehmer:innen zu dolmetschen. Mit allen Nuancen. Den Auftrag bekommt man jeweils von den zuständigen Redaktionen, im Normalfall ist das der aktuelle Dienst. Während der Live-Sendung arbeitet man eng mit Regie und Tontechnik zusammen. Bei längeren Einsätzen ist man zu zweit, bei kurzen Einsätzen selbstverständlich auch allein. Das ist etwa bei Interviews oder kurzen Beiträgen der Fall, die im Rahmen einer Nachrichten- oder Kultursendung ausgestrahlt werden.
Wie war Ihr persönlicher Weg zum Fernsehen?
Ich verdanke meine Karriere als Mediendolmetscherin einem meiner ehemaligen Professoren, Erich Simak. Er war ein fantastischer Dolmetscher und großartiger Lehrer, der leider krankheitsbedingt sehr früh seinen Beruf aufgeben musste und jung verstorben ist. Er hat mich 1968 zu den US-Präsidentenwahlen dazugeholt, das war mein erster Einsatz. Und dann im Juli 69 die Mondlandung.
Was macht für Sie den Reiz an dieser Tätigkeit aus? Was ist das Besondere daran?
Beim Fernsehen sind mehrere Faktoren ganz speziell zu berücksichtigen. Ein großer Anreiz ist für mich die Unmittelbarkeit. Die Fernsehzuschauer:innen hören gleich darauf dasselbe wie wir, trotzdem hat man das Gefühl, an historischen Ereignissen ganz nah dran zu sein, was sehr spannend ist. Besonderheiten gibt es mehrere, zu nennen ist einerseits das ganze Setting ohne schalldichte Kabine. Wir sitzen in einem kleinen „Kammerl“ und bekommen das Fernsehbild über Monitore geliefert. Früher saß man auch im großen Nachrichtenstudio, in dem sich die Kameras herumbewegten. Dann ist da natürlich die Technik. Man bekommt Kopfhörer, die das Ohr ganz abdecken, was ungewohnt ist. Bei Medienereignissen wie der Mondlandung oder der Oscar-Nacht sind die Arbeitszeiten oft mitten in der Nacht und dauern lange. Und dann gibt es aber auch ganz kurze Einsätze.
Sie erwähnen einen Eignungstest. Was ist beim Dolmetschen im Fernsehen besonders zu beachten?
Ganz wichtig ist die Schnelligkeit, insbesondere bei kurzen Interviews. Man darf nicht hinterherhinken. Dann natürlich Mikrofontauglichkeit. Die Stimme macht sehr viel aus. Die Präsentation muss flüssig und klar sein. Ich habe einmal eine Umfrage gemacht, um die Erwartungshaltungen an Dolmetscher:innen bei Konferenzen bzw. beim Fernsehen zu vergleichen. Die Erwartungen waren beim Fernsehen generell höher, insbesondere, was Stimme, akzentfreie Sprache, flüssige Rede und Klarheit betrifft. Der einzige als weniger wichtig erachtete Aspekt war Vollständigkeit. Schließlich liefert auch das Bild Informationen.
Welche Herausforderungen bringt die Arbeit mit sich?
Fernsehdolmetschen war schon immer Remote Interpreting. Man hat nur den Monitor vor sich. Dazu kommt, dass das Fernsehbild für die Teilnehmer:innen gedacht ist, nicht für die Dolmetscher:innen. Oft sehe ich die Redner:in nicht, sondern bin ganz auf den auditiven Kanal angewiesen. Wenn der Ton schlecht ist, macht es das umso schwieriger. Die Zusammenarbeit mit der Regie und der Tontechnik ist da ganz wichtig, denn es ist mir schon x-mal passiert, dass man die eigene Stimme auch in den Kopfhörer geliefert bekommt. Das macht ein Dolmetschen unmöglich. Oder man hört es während einer kurzen Live-Sendung nur krachen und es stellt sich die Frage: „Soll ich jetzt die Sendung platzen lassen und sagen, dass ich nichts höre? Oder versuche ich, möglichst gut zusammenzufassen, was dann mitunter nicht so toll gelingt und ein negatives Echo auslöst?“ Es ist immer ein Balanceakt.
Inwieweit kann man sich inhaltlich vorbereiten?
Manchmal ja, manchmal gar nicht. Bei einem Kongress bekommt man immer wieder Redetexte im Voraus; die kriegt man beim Fernsehen praktisch nie. Bei Übertragungen der BBC wie den Royal Weddings bekommt man zwar einen sehr schönen Ablauf mit den Bibelstellen, aber das Entscheidende, die Predigt des Erzbischofs, bekommt man nicht.
Ein Horrorszenario war in diesem Zusammenhang Fukushima. Damals kam eine Mischung an Terminologie vor, die man sonst selten vorfindet. Zum einen wurden Interviews mit Betroffenen, mit Familienangehörigen, die Verwandte verloren hatten, mit Helfer:innen oder Rotkreuz-Einsatzleuten geführt, zum anderen gab es Nachrichtensendungen in einem Affentempo, die eine Auflistung der besonders betroffenen japanischen Provinzen enthielten, die wir im Voraus nicht kannten; und dann wurden technische Details zu den Atomreaktoren besprochen. Da musste man einfach durch. Ich sage immer: Es ist ein Drahtseilakt ohne Netz. Wobei sich im Laufe der Zeit die Recherchemöglichkeiten dank Internet natürlich ungeheuer verbessert haben. Aber dieses spontane Reagieren-Müssen und Liefern-Müssen macht die ganze Sache spannend.
Fällt Ihnen ein besonderer Einsatz im Rahmen Ihrer langjährigen Arbeit beim Fernsehen ein?
Natürlich, abgesehen von der Mondlandung waren es rückblickend wohl 9/11 und Fukushima.
Wie hat sich die Arbeit der Mediendolmetscher:innen über die Jahre verändert?
Früher hat sich das Dolmetschen im Fernsehen auf große Medienereignisse beschränkt. Im Laufe der 80er- und 90er-Jahre haben sich die Dolmetscheinsätze auf diverse Bereiche wie Kultur, Unterhaltung, Religion und Talkshows ausgeweitet. Es wurden oft Gäste ins Studio eingeladen, zum Beispiel gab es lange den „Club 2“ mit Diskussionen vor Ort. Damals saß ich bei etlichen Einsätzen mit im Studio, habe für den Gast geflüstert und dann konsekutiv für das Fernsehpublikum gedolmetscht. Ein zusätzlicher Stressfaktor war dabei, dass man sich selbst auf dem Monitor gesehen hat. Aus Gründen der Zeitersparnis ist man dann bald zum Simultandolmetschen übergegangen. Heute werden natürlich auch noch wichtige Ereignisse live gedolmetscht, viele Interviews werden aber im Voraus aufgezeichnet. Die Journalisten führen die Interviews oft auf Englisch und übersetzen dann selbst. Dann wird das Ganze von professionellen Sprecher:innen eingespielt, die ein bisschen später anfangen und früher fertig sind als das Original – das ist natürlich möglich, wenn die Sendung nicht live ist. Und damit werden dann die Dolmetscher:innen verglichen.
Geht das Dolmetschen einer Live-Sendung im Vergleich zu anderen hochrangigen Dolmetscheinsätzen mit mehr oder weniger Stress einher?
Absolut mehr Stress. Einerseits sind es die ungewohnten Umstände, andererseits die Tatsache, dass man für ein Millionenpublikum dolmetscht und alle meine Kolleg:innen und Studierenden zuhören. Man ist jeder Kritik ausgesetzt. Der erhöhte Stress ist sogar messbar: Eine meiner Studierenden wollte einst eine Dissertation zum Thema Stress schreiben und hat in deren Rahmen bei einer Medizinkonferenz einerseits und bei einer Fernsehsendung andererseits – es war irgendeine Royal Wedding – Untersuchungen mit Pulsmessungen gemacht. Ich war dabei eines der Versuchskaninchen. Bei der Medizinkonferenz war meine Pulsfrequenz unaufregend, beim Fernsehen dagegen ständig über 80 pro Minute mit Höchstwerten von 100. Der Stress war also nicht nur gefühlt, sondern auch messbar größer. Allerdings darf es kein Disstress werden, sondern muss positiver Stress, also Eustress sein.
Gibt es vielleicht eine schöne Anekdote oder witzige Begebenheit aus Ihrer Arbeit, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist?
Das wollen die Leute immer wissen (lacht). Ich hatte einmal ein Interview bei einer Kultursendung gedolmetscht. Am Tag darauf bekam ich einen Anruf vom ORF mit der Frage, ob die Sendung vom Vortag live gedolmetscht worden sei. Ich hatte keine Ahnung, warum diese Frage kam, jedenfalls hat sich herausgestellt, dass der Redakteur einer Tageszeitung in seiner Kritik geschrieben hatte, der ORF möge nicht so tun, als ob die besagte Sendung eine Live-Sendung gewesen sei, denn die Dolmetscherin sei mitunter früher als der Redner fertig gewesen. Ich ließ mir die Nummer des Redakteurs geben, habe ihn angerufen und ihm erklärt, wie Dolmetschen funktioniert; dass wir antizipieren und dass es mitunter gelingt, früher oder gleichzeitig mit dem Redner fertig zu sein. Er hat sich dann nett entschuldigt, und ich habe ihm gesagt: „Eigentlich haben Sie mir damit das größte Kompliment gemacht. Wir wollen ja möglichst rasch fertig sein, es gelingt nur nicht immer.“
Ingrid Kurz ist langjährige Medien- und Konferenzdolmetscherin sowie ehemalige Professorin am Zentrum für Translationswissenschaft der Universität Wien.
Von Nóra Uhri
Wien, März 2023
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